Diedrich Diederichsen      
 Imitation der Kultur      
     
       

Der Ruf des "Künstlers" hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten in mancher Hinsicht massiv verschlechtert. Sei es als romantischer Held eines abenteuerlichen Lebens, sei es als verantwortlicher Urheber komplexer Werke. Die Rede vom Mythos des Künstlers bezog sich nicht mehr auf Dichtungen, mit denen man in früheren Zeiten die Künstlerlebensläufe ausgeschmückt hatte: die immer wiederkehrende Kindheit als Schafhirte etwa. Nein, in den letzten Jahrzehnten richtete sich diese Rede eher gegen die konventionelle Konstruktion des schöpferischen Subjekts. Dabei kann man zwei kritische Ansatzpunkte unterscheiden: diejenigen, die sich gegen den falschen Universalismus in der Idee des Künstlers richten und doch in Wahrheit auf einen männlichen, weißen, europäischen und bürgerlichen Typ zugeschnitten waren, der schon die noch relativ häufig stillschweigend geduldete Abweichung der Homosexualität nicht in seinen Begriff integrieren durfte.

Der andere Ansatzpunkt richtete sich neutraler gegen die Zentralität des Künstlers und seiner Kreativität als nicht hintergehbaren Instanz in kunstkritischen und kunstwissenschaftlichen Analysen; gegen die darin enthaltene Überschätzung des Persönlichen, Individuellen und natürlich auch gegen die Ideologie, die diese Überschätzung möglich macht. In den 80er Jahren und vor allem in den 90ern trafen sich diese beiden, die politisch-universalismuskritische und die epistemologisch-methodenkritische Richtung immern häufiger und begründeten sich gegenseitig. Schließlich sind Substrate beider heute in einer universitären Folklore angekommen, die sich "gegen das Künstlersubjekt" ausspricht, oft in durchaus sympathischen Projekten und anregender als die immer noch hegemoniale Gegenseite, aber eben oft auch in einem ziemlich gedankenlosen Reflex gegen alle individuellen und persönlichen Anteile künstlerischer Arbeit und deren Bestimmung.

Schließlich stellt sich noch eine dritte Frage, die in dieser Zuspitzung natürlich weltfremd klingt: wer wird - nach dem Künstler - eigentlich zum Adressaten der Kritik? Scheidet nicht der zumindest nicht ganz unwichtige Apsket des "Kunstsystems", Kommunikation zu generieren und zu verteilen, aus, wenn Urheber unwichtig werden? Natürlich lautet die richtige Antwort auf diese naive Frage, daß Zusammenhänge, Gruppe, entdramatisierte Urheberschaften, die an die Stelle des alten Künstlers im emphatischen Sinne, Diskussionen und Verantwortlichkeit, Kritik und Kommunikation nicht nur nicht suspendieren, sondern gerade erst intensivieren, indem sie sie herrschaftsfreier gestalten, auf mehr Personen verteilen, Hierarchien auflösen und insgesamt - abstrakt gesprochen - Knoten und Verdickungem im kommunikativen Prozess auflösen.

Vor diesem Hintergrund ist es interessant, daß Marlin Carpenters Arbeit von Anfang an, sich offensichtlich die Aufgabe vorgenommen hat, gleich mehrere Aufgaben, die diese Diskurskonstellation aufwirft, zu übernehmen, ihre Widersprüche aufzudecken oder zu steigern, auszutragen oder ostentativ zu ignorieren - und schließlich einen neuen Blick auf die Probleme anzubieten. Man kann vielleicht sagen, daß ihn die Funktion der heutigen Version der Legende vom Schafhirten einerseits als Gegenstand der Kritik interessiert, andererseits er gerne weitere Legenden dieser Art hören und verfassen und auslösen möchte - und natürlich auch wissen möchte, warum.

Carpenter hat einerseits durch seine Mitarbeit als Autor und intellektuelle Präsenz im Umfeld genau solcher Diskussionen - etwa in der Zusammenarbeit mit Nils Norman, mit der Gruppe um den "Friesenwall 120" oder im Umfeld der Kölner Zeitschrift "Texte zur Kunst", ganz besonders aber durch seine intensive Beteiligung an dem Projekt "Poster Studio" in London - sein Interesse an der Aufarbeitung und politisch verstandenen Auflösung des konventionellen Künstlertums und seiner sozialen und institutionellen Verankerungen deutlich gemacht. Andererseits hat er als Maler ein nicht nur formal, sondern auch biographisches Interesse an genau der Sorte Künstler geltend gemacht, die das kritische Milieu seinerzeit ganz besonders ausgeprägt ins Visier genommen hat; an Malern und anderen Künstlern, die für sich das Privileg in Anspruch genommen haben, ein aus sich selbst begründetes und schöpfendes und "unverantwortliches" Künstlertum zu vertreten - begründet durch nichts als "Genie" oder "Qualität".

Ich werde nun versuchen zu zeigen, daß ein große Teil des Projekts, das Carpenter als Maler unternommen hat, sich als eine Untersuchung beschreiben läßt, die Effekte eines solchen Künstlertums, seine Vor- und Nachteile auf der Höhe der Diskussionen seiner Zeit zu studieren - von dieser allerdings dadurch unterschieden, daß seine Fragen nicht von außen formuliert sind, von einem Standpunkt aus, der auch an den Produkten, Methoden, Traditionen und Traditionsverwerfungen einer solchen Malerei kein Interesse mehr hat, sondern von jemandem, der sich eindeutig fasziniert und intim vertraut zeigt. Darüber hinaus geht es mir darum, daß diese Relektüre des Genialen und seiner Banalität wichtige Rückschlüsse auch für jeden politischen Arbeit am Visuellen erlaubt.

Carpenter geht nicht von der Idee des Künstlersubjekts als große Fragwürdigkeit oder Unhintergehbarkeit aus, sondern orientiert sich an der eigenen Fasziniertheit mit bestimmten Leben-Werk-Entwürfen und stellt sie an den Ausgangspunkt seiner Untersuchung. Folglich heißt das Thema bei Carpenter auch nicht so sehr: "Der Künstler, zeitgemäß oder überlebt, fortschrittlich oder reaktionär", sondern vielmehr: "Glamour und Kunst - Wege und Irrwege ihres Zusammenhangs".

Nun kann man natürlich sagen, daß jedes Interesse an Künstlern und ihren Hervorbringungen mit einer Faszination begann. Es ist nichts besonderes, sich darauf zu berufen, von dieser Faszination auszugehen: Man ist mit dieser Methode nicht wahrhaftiger, näher dran oder lebendiger, denn jeder und jede beginnt so und irgendwann setzt die Reflexion auf die Faszination ein, die sich nach und nach entzaubert, wenn ihre Mechanismen klar werden.

Das Problem an dieser undialektischen Idee von Selbstaufklärung, die gleichwohl als Mythos von der kathartischen Funktion der Selbsterkenntnis qua Entzauberung pubertärer und adoleszenter Illusionen, ist, daß sie davon ausgeht, irgendetwas Besseres trete wohl an die Stelle der ersten Faszination, das an diesem Platz besser aufgehoben sei. Doch was könnten wir sein, wenn nicht fasziniert? Aufklärung, Aufgeklärt sein, das an die Stelle der Faszination - im psychischen Getriebe - tritt, führt meist zu Fanatismus - einer anderen Form von produktiver Blindheit, mit Vor- und Nachteilen. Oder die besagte Stelle beleibt leer. Und füllt sich natürlich sofort mit allerlei verborgenen und versteckten Entscheidungsträgern, die jetzt unbeobachtet Entscheidungen treffen.

Was ich meine, sind natürlich nicht wirklich psychische Vorgänge im strengen Sinne, weniger Architekturen und Funktionsdifferenzierungen der Seele, sondern nur des kleinen Teils des psychisch-kognitiven Apparats, den wir Neugier oder Erkenntnisinteresse nennen und der natürlich von unterschiedlichen Instanzen betrieben wird - für Funktion und Ideologie des Künstlersubjekts hingegen sehr wichtig ist. Einige dieser Instanzen müssen sich immer wieder der Kritik stellen - andere arbeiten dagegen im Verborgenen. 1992 malt Carpenter eine "Hommage to Schnabel", dessen Namen er als "Joolz Schnabibobs", sozusagen freundschaftlich distanziert ins Bild schreibt. Auf diesem Bild sehen wir - wie so oft bei Merlin Carpenter - malerische Gelungenheiten, Effekte, Witze, die zugleich sehr gekonnt oder treffend wirken und zugleich zu gekonnt, treffend und also billig, dann aber wieder deutlich schlauer als diese bloße Ambivalenz.

Merlin Carpenter interessiert sich dafür, warum das, was gut aussieht, gelungen aussieht als seelenlos, gekauft oder billig gilt, aber nicht nur für den spießig-protestantischen Reflex, das Glanzvolle aus Angst vor der reinen Oberfläche abzuweisen, den vielleicht ein anderer Protestant wie Nietzsche gemeint hätte, sondern auch, warum es am Gelungenen wirklich etwas Billiges gibt. Und er interessiert sich auch für den Unterschied zwischen großartigen, in diesem Sinne: billigen, souveränen Künstlern und solchen, die versagen, weil sie wirklich so dumm sind, wie man meinen könnte, daß Künstler, die den Zusammenhang zwischen Gelungenheit und Ignoranz verstanden haben, sein müßten (um nicht daran durchzudrehen).

Carpenter hat also, so scheint es, das exquisite Problem, unendlich fasziniert zu sein, von dem Zusammenhang zwischen einem sehr naheliegenden und daher natürlich sehr seltenen Gutaussehen eines Bildes und dessen gleichzeitig auftretender eklatanter Banalität und Weisheit - und zusätzlich aber zu wissen, daß Künstler, die an diesem Pol arbeiten, selber meist keine Ahnung davon haben, worin sie stecken (was manchmal gut für sie ist und manchmal gar nicht). Carpenter weiß also einerseits mehr als alle Mitbewerber um die Verschuldung einer bestimmten Schönheit an das Nichtige und Niedrige und kann gleichzeitig von seinem Wissen an genau dem Ort dieser Schönheit keinen Gebrauch machen. Er muß dies anderswo tun - und kann derweil nicht anderes tun als auf der Höhe der von ihm anerkannten Könner anzukommen oder zu bleiben. Carpenters Wissen in diesem Punkt ähnelt sehr dem des theoretisch interessierten Fans von Pop-Kultur, wie er in allen kulturellen Sparten immer häufiger wird.

Carpenter löst also nun für sich das Problem der langsamen Entleerung der Faszination durch Reflexion bei gleichzeitiger Unersetzbarkeit der Faszination durch Reflexion oder Nihil, indem er die spezifische Faszination, an der er hängt, sich sozusagen "dumm", aber begabt und geschickt weiterentwickeln und verfeinern läßt, und dabei die Reflexion in andere Territorien treibt. Da er aber auch nur ein Mensch ist, muß er die unterschiedlichen Territorien gelegentlich übereinanderlegen, vermitteln. Er ist einer von wenigen, die das machen. Die Ausnahme wäre Albert Oehlen und seine Schule, mit der Carpenter ja auch vielfältig korrespondiert im unterschiedlichen Sinne des Wortes.

Diese Überlagerungen und Vermittlungen sind natürlich nicht nur kein leichtes Geschäft. Sie teilen ein zentrales Problem aller Untersuchungen, die zwischen Welten wechseln wollen. Zwei oder mehrere Welten können nur dann als wirklich verschiedene gelten - wie etwa die der Kritik und die der oberflächlichen, aber tiefen Schönheit -, wenn sie über absolut unversöhnliche Qualitätsbegriffe und Erfolgskriterien verfügen. Gerade das scheint sich Carpenter in seinen Projekten und Untersuchungen u.a. aber vorgenommen zu haben, beiden gegenseitig die Qualität des anderen zu erklären. Vor allem der Kritik die der nichtswürdigen Schönheit.

Man kann die bildkünstlerischen Arbeiten Carpenters folgenden, unterschiedlichen Unterabteilungen dieser Untersuchungen zuweisen, von denen hier die Rede war (wobei ich mit Untersuchungen nicht an einen modischen Begriff von Recherche als künstlerische Praktik anknüpfen möchte, sondern eher den dem Erkenntnisinteresse zugewandten Anteil jeder künstlerischen Arbeit meine): Da wären die anderen Künstler, Kippenberger, Schnabel und Pollock, deren je unterschiedlicher Position in der oben beschriebenen Konstellation zwischen glamouröser Schönheit und kritischen Wahrheitsanspruch jeweils einzelne Kapitel seiner Arbeit gelten. Sodann wäre der "kunstfremde" Glamour von a)Supermodels und b)Popmusik zu nennen. Hierbei wandern die Effekte, die zuvor aus Positionen zwischen "reiner Oberfläche", "Konformität" und "Karrierismus" gegenüber der Kunst abgeleitet wurden, in die Gegenstände selbst, in das Dargestellte und seine atmosphärischen Umgebungen.

Als drittes Gebiet käme der ostentative Umgang mit sogenannten neuen Technologien hinzu, wobei Carpenter in seiner Ausstellung "Survivors" (Nagel, Köln 1999) erneut mit einem ebenso naheligend billigen wie im gewählten Kontext und inder spezifischen Umsetzung treffenden und großartigen Effekt arbeitete, der gemalten Rekonstruktion von Pixelstruktur - bei der Darstellung von Supermodels und Schauspielerinnen und ihrer Konfrontation mit lecker naheliegenden, abstrakten Digital-Gekrakel. Dagegen hat er in der 94er Ausstellung bei Borgmann/Petzel, New York damals inder High Art Welt noch relativ wenig benutzte Bildverarbeitungsprogramme weniger ausstellend schnoddrig, sondern noch "ernsthafter" auf der Suche nach einer neuen Visualität eines globalen Lokalen eingesetzt. Dazu gleich noch mehr.

Schließlich gibt es bei ihm viertens einen Flirt mit der Warenform, sei es durch die Einbeziehung von Oberflächen, die ihren Reiz einem Kontext der Warenwelt, also des geübten wie gebrochenen Waren-Begehrens, Waren-als-Zeichen-der-Welt-Lesens, Waren-als-Konkurrenten-von-Kunst-im-Auge-Habens verdanken, sei es durch Einbeziehung echter Prestigeobjekte und Waren (hochwertige Autos und Fahrräder) in Ausstellungsdesign, sei es schließlich die Einbeziehung eines technologischen Look, der sozusagen als Malerei-fremdes Element dennoch dezidiert harmonisch (und damit in gewissen Sine provozierend leicht) aufgeht.

Dagegen laufen auf der biographische Seite des Projekts die Gegenveranstaltungen einerseits der radikalen Kritik durch die Mitarbeit an und Initiation von Projekten einer nicht Werk und Künstler-orientierten Kunst und dann auf noch einer anderen Ebene andererseits die Projekte der Überaffirmation durch das Einnehmen von Assistenten-Rollen bei von Carpenter geschätzten oder bewunderten Künstlern wie u.a. Martin Kippenberger, später Werner Büttner und Albert Oehlen - die wiederum Künstler sind, die sich durch unterschiedlich bewußten und ausgestellten Umgang mit den oben beschriebenen Themen auszeichnen.

Das so geframete Projekt der Analyse und Weiterverarbeitung von Substanzen des Banal-Meisterlichen macht also zunächst eine heuristische Setzung: das einzige unrelativierbare Datum, das zu unerserm Standpunkt und unserer Perspktive gehört, ist unsere Faszination, die sich immer wieder regeneriert. Sie funktioniert wie die Zellteilung. Nach ihr käme die ganz große Depression - damit kann uns der Kapitalismus und seine Konsumkultur erfolgreich erpressen. Daneben macht Carpenter aber eine zweite Setzung: man darf keiner Unhintergehbarkeit wirklich trauen, man muß der eigenen Neigung zur Absolutierung der eigenen Perspektive etwas entgegen setzen. Dafür werden dann alle möglichen anderen einbezogen und zu vom Künstler oder Projektleiter nicht vorhersehbaren Handlungen eingeladen (die Meister, die Genossen etc.). Schließlich aber wird etwas drittes versucht: die Faszination wird bearbeitet und zwar an einem Ort, wo man sie heutzutage fast vergessen hat zu bearbeiten. In der Imitation, im Nachstellen - nicht als postmoderne Strategie, sondern als Selbstversuch: was passiert mit mir, wenn ich banal-meisterliche Bilder male? Im Ausleben also der Frage, kann ich das auch? Oder wie Tom Wolfe zu sagen pflegte: "What if they are right?"

Man hat die Möglichkeit dieser Erfahrung z.T., zurecht vergessen. Denn wer könnte ernsthaft annehmen, die modernen Faszinationseffekte ließen sich durch (handwerkliche) Nachahmung rekonstruieren, ja überhaupt untersuchen. Jeder würde sich beeilen zu entgegnen, daß doch vor allem Effekte, die durch massenmediale Präsenz, Wiederholung, aber auch Produktionsstandards, Kosten, Ideologie etc. hergestellt werden, unseren Faszinationen zugrunde liegen und es nur einer Analyse unserer idividuellen Ohnmacht allenfalls dienlich wäre, sie zu imitieren.

Carpenter setzt dem aber eine Nachbarschaft zwischen den Faszinations-Effekten hegemonialer Massenkultur und hegemonialer Hochkultur gegenüber. Wenn sich aber hegemoniale Hochkultur und Massenkultur nun begegnen und zumindest für einen Teil der dabei entstandenen Effekte die Malerei verantwortlich ist - wie bei Pollock und seinem Mythos oder bei Schnabel - , ein Handwerk also, das Carpenter nunmal beherrscht, dann müßte es doch möglich sein, sich indivduell mit überwiegend handwerklichen Mitteln den großen Faszinationseffekten anzunähern.

Der andere Künstler, der sich anbot, eine Rolle in Carpenters Werk zu spielen und eine ähnliche Rolle für ihn spielte, was die Begegnung großer Banalität (nicht im Warhol´schen Sinne) und großer Kunst (nicht in einem Sinne, der weiß oder meint, daß es keine Kunst ohne Kritik gibt), war also Jackson Pollock. Pollock kannte Carpenter in seiner Jugend nur als einen kunsthistorischen Witz, als den, der das und das gemacht hat, als ein popkulturelles Datum, als Vorbild ganz armer und aufgegebener Tröpfe an der Kunstakademe, nicht als einen Künstler, über den man ernsthaft im Gespräch mit anderen ernst zu nehmenden Künstlern diskutieren könnte. Eine banale Größe. Als er eines Tages für sich entdeckte, daß Pollock ein großartiger, genauer, detailversessener Maler gewesen sei, war unklar in welchen Diskurs dieses Wissen eigentlich gehörte. War es tatsächlich ein Wissen über einen Künstler? Oder war es eine eigentümliche Ergänzung zu oder Widerlegung eines populären Topos - und quasi nur im Zusammenhang mit diesem Topos zu diskutieren? Oder gab es keinen Unterschied zwischen beiden Formen des Wissens? Oder sollte es keinen geben?

In diesem Zusammenhang stellt sich dann erneut und noch einmal anders die Frage von vorhin; wie nämlich die "Qualität" binnenkünstlerischer Entscheidungen, Problemlösungsfindungen etc, diskutiert, ja überhaupt benannt werden können, wenn der historische und soziale Rahmen, in dem diese Entscheidungen getroffen worden sind, einerseits als kunsthistorischer Topos verkürzt, anekdotisiert und delegitimiert sind, andererseits die aktuellen Diskussionen für den Wert oder die Spezifizität dieser Entscheidungen eh keine Verwendung haben? Was nehme ich wahr, wenn ich als Zeitgenosse dieser beiden relativ verbindlichen Übereinkünfte trotzdem Verwendung für solche Beobachtungen habe? Ist diese "Qualität", diese "Schönheit" dann etwas anderes als Unterwerfung unter Konventionen der Attraktivität, Anpassung an massenkulturelle Standards - im Falle Schnabels - oder von den Mythen und Standards der Massenkultur und ihrer Banalitäten im Nachhinein komplett überwuchert - wie im Falle Pollocks? Und was ist daran wie falsch?

Carpenter diskutierte das Problem in seiner Ausstellung "Chant No 1" (Hetzler, Berlin 1998) rund um bestimmte Bilder, Ausstellungen und malerische Details von Pollock, aber auch über populärkulturelle Klischees, die im Zusammenhang mit "Jack The Dripper" kursieren. Dabei ging es allerdings nicht um eine saubere Versuchsanordnug wie im Falle der Art & Language-Lenin- oder Stalin-Porträts "...in the style of Jackson Pollock", sondern eine durchaus offene Vermischung dieser auch völlig ungeklärten theoretischen Fragen mit immanenten Problemen von Carpenters abstrakter Malerei - die bei aller Bezogenheit ja auch für sich zu stehen, anbietet, ja mit der Dialektik spielt, daß einige deutliche und dennoch subtile und beziehungsvolle Anspielungen auf Pollock, alles Andere ganz als die eigene Arbeit erscheinen lassen, in einem merkwürdig befreiten Glanz, den eine ganz unbezogene Ausstellung, die nicht um ein Entree qua Thema sich bemüht hätte, nie zustande bekommen hätte. Vielleicht.

Im Gegensatz zu zeitgenössischer projektorientierter Kunst waren in "Chant No 1" eben gerade nicht alle oder die überwiegende Anzahl der Elemente der Arbeit von den ihaltlichen Fragestellungen determiniert, dennoch war die Art und Weise wie das Thema Pollock bespielt wurde, über die bloße Erwähnung des Künstlers der Rede wert. Es schien darum zu gehen, daß die Frage, in welchem Register neue Entdeckungen über die malerischen Fähigkeiten Jackson Pollocks heute verhandelt werden können, sich nicht von der Frage trennen ließ, was man macht, wenn man heuzutage abstrakte Malerei mit dem Anspruch betreibt, weder beliebig noch individual-hermetisch zu arbeiten. Die also schon befreite und für sich stehende neue Malerei Carpenters sah sich plötzlich zu einem Teil für ihre eben erreichte Neuheit und Unabhängigkeit durch eine Verwicklung in eine Zeitschleife bestraft, etwa in dem Sinne, daß die Zeit nicht weitergegangen ist für Maler seit Pollock. Zum anderen blieb sie frei, weil sie sich als ganz bestimmte malerische Praktik ebem auch erkennbar nicht von ihrem Zusammenhang mit einem größeren Projekt trennen ließ.

Carpenter konnte bei dieser Ausstellung bereits auf eine Geschichte der Beschäftigung mit und vor allem Bearbeitung von einerseits historischer abstrakt-expressionistischer Malerei, andererseits deren ironischen, postmodernen und durch Konzeptualisierungen und Kritik hindurchgegangenen Versionen und Reaktionen zurückblicken. Daß man etwas von Pollocks Malen lernen, aufgreifen oder würdigen könnte, wäre auch unter den früheren Arbeitsumständen und Projekten nicht völlig abwegig gewesen. Es schied für ihn aber früher aus, weil die Möglichkeiten, die ein zwar Malerei-interessierter, aber eben konzeptuell bis postkonzeptuell informierter Blick gerade bei Pollock nur relativ simple und vielfach ridikülisierte Strategien entdecken konnte. Das läßt uns mit der Vermutung zurück, daß das nun, um 1999 entdeckte Interesse Carpenters an Pollock an so eine postkonzeptuelle Malerei, wie er und andere sie vorher betrieben, wenigstens an das, was sie bisher an isolierbaren, diskussionsfähigen Ideen erarbeitet hat, nicht anschließbar ist. Was wiederum den Schluß nahelegt, daß er jetzt noch mehr weiß.

Nun könnte man sagen, daß mittlerweile auch andere, in den letzten Jahren so gar sehr viele TheoretikerInnen, KritikerInnen, KünstlerInnen und Institutionen einen neuen Zugang zu Pollock entdeckt oder behauptet haben. Es klingt ganz im Sinne Carpenters und meines Gedankens von vor zwei Absätzen, wenn T.J Clark zu Beginn seines vielbeachteten Essays in Verteidigung des Abstrakten Expressionismus erklärt, daß "not being able to make a previous moment of high achievement part of the past - not to lose it and mourn it and, if necessary, revile it - is for art in modernist circumstances, more or less synonymous with not being able to make art at all". In genau diesem Sinne aber ist das Stigma des modernen Witzes schon lange von Pollock genommen - und dennoch nichts an dessen Stelle getreten, an das Carpenters "Gut finden" anzuschließen wäre.

Es geht auch nicht in erster Linie um Pollock, sondern um einen unbegriffenen Begriff von Qualität der in allen kritischen Diskursen ausgespart bleibt, nicht einmal dekonstruiert wird, und dennoch jede Rede über Kunst strukturiert, wenn man sich nur Milimeter außerhalb der kritischen und historischen Rede aufhält. Auch Clarke, der seine Klassenanalyse und Ideologiekritik durchweg begründet, begründet seine Qualitätsurteile nicht, auch wenn es schon recht auffälloig ist, daß er sie überhaupt fällt. Er versucht sich dem Problem dadurch zu entziehen, daß er die Begriffe, mit denen er Qualitätsurteile fällt genau unterschiedet: "strong" von "good" z.B.

Der Qualitätsbegriff, den Carpenter anspricht, wenn er einerseits zu Topoi und Klischees gewordene kunstgeschichtliche Marksteine wie das Werk Pollocks erneut als "genial" oder "gelungen", "gut gemacht" entdeckt oder erkennt, berührt einen unausgesprochenen Aspekt von Qualität und Gelungenheit. Eine andere Figur, bei der genau dieser Begriff der Qualität eine Rolle spielt, ist jemand wie Julian Schnabel, ein von der Kritik (im Sinne von: die Rezensenten, ebenso wie im Sinne von: das Projekt der Kritik) völlig vergessener oder ridikülisierter Maler, der gleichwohl kommerziell sehr erfolgreich ist und - so Carpenter - sehr gut ist.

Nun wäre es nicht weiter einsichtig, warum Carpenter oder irgendein anderer junger Maler einen Kreuzzug für Qualitätsurteile im konventionellen Sinne an sich führen sollte. Die unproduktive Seite nicht so sehr ihrer vermeintlich notwendig apodiktischen, nie ganz begründbaren Natur, sondern vor allem ihrer Praxis als Geste der Macht könnte ja noch sattsam bekannt sein: das willkürliche (oder versteckt politische) Begründen von Kanonisierungen und Auschlüssen, das Aussetzen von Begründungen, Anschlüssen an andere Projekte und Diskurse, die Entsachlichung und ungute Synchronisierung mit dem Geschäft von Markt, Spekulation und Institution. Mit anderen Worten: eine Regulierung der Kunst, von der sich abgesetzt zu haben, trotz allem und vor allem auch trotz anderer Diskursverknappungen, die fast genau so folgenreich sind wie das traditionelle Qualitätsurteil, wahrscheinlich einer der wenigen unbezweifelten Gewinne der Moderne darstellt. Und wenn ich Carpenters Interesse an Qualität und Qualitätsurteilen verteidigen will, dann auch nicht, weil ich glaube, daß man analog zu den politischen Desastern der Deregulierung ein Übermaß an Freiheit der Kunst beklagen müßte.

Ich glaube zunächst vielmehr, daß weder "Qualitätsproblem" noch "Pollockproblem" Endstationen des von Carpenter mit malerischen wie anderen Mitteln initiierten Diskurses über Malerei sind, sondern nur Leuchtpistolenschüsse, dazu abgefeuert, um ein wenig Licht auf ein Gespräch und ein Arbeiten zu werfen, das schon von seinem Gegenstand - Kunst - her traditionell zu einer in gewisser Weise obskuren Ambivalenz verdammt ist. Denn erstens, welche, wenn nicht immanente Qualitätskriterien sind es, die bei den vielen alltäglichen Entscheidungen all jener künstlerischer Produktion zur Anwendung kommen, die sich nicht klar einem höheren konzeptuellen Grund oder einer mit konzeptuellen Rahmebedingungen verbundenen Verbindlichkeit verdanken? Und hat zweitens die vollkommene Abwesenheit einer öffentlichen Diskussion entlang von Qualtätskriterien nicht dazu geführt, daß die allerdüstersten und unaufgeklärtetsten, aber dennoch auf - nur eben nicht ausgesprochenen - Qualitätskriterien basierenden Meinungen und Handlungen ungestraft und ungeprüft ihr trübes Treiben fortsetzen können.

Merlin Carpenter hat dabei zeitweilig sehr viel getan, um seine Reflexionen über die Qualität visueller Darstellung nicht in Abhängigkeit von anderen aufgeladenen oder eben in der beschriebenen Weise blockierten Themen und Zugängen wie "Malerei" oder "Pollock" zu lancieren. Ausstellungen wie die mit digitalen Collagen von Architektur- und Stadtbildern in der Galerie Borgamann/Petzel im Jahre 94 versuchten eine entgegengesetzte Strategie. Ein generell diskutiertes und von Carpenter ja auch in umittelbarer Aktion (das u.a. stadtpolitisch engagierte "Poster-Studio"-Projekt in London) konfrontiertes Thema wie die aufkommende Urbanistik-Diskussion der 90er wurde als Ausgangspunkit von der anderen Seite (der "Pollock" sozusagen entgegengesetzten) genutzt, und das nicht in einer instrumentellen Weise, sondern in Aufdeckung der mit dem Thema schon auf rein sachlicher Ebene aufkommenden ästhetischen und Darstellungsproblemen, um über sehr spezifische, digital organisierte und fast nur in all der "Abstraktheit", zu der uns unreflektierte Schönheits- und Qualitätsbegriffe zwingen, richtig einzuschätzende ungewöhnliche Bewältigungen von konkreten Stadtraum vor dem Hintergrund eines quasi unendlichen und endlos setzbaren globalen Horizont zu zeigen, der gleichzeitig als der der Kunst, der im ideologischen Sinne universalistischen Kunst, erkennbar wird.

Trotz also dieses und anderer Versuche von der Gegenseite aus zu operieren, spitzt sich Carpenters Arbeit darauf zu, den Wissenstyp der Qualitätseinschätzung prekärer und belasteter, aber erfolgreicher, kanonischer Künstler, noch unmittelbarer mit der eigenen Arbeit engzuführen. Man könnte das vielleicht über folgende Entdeckung erklären: Es gibt eine bestimmte Dimension von visueller Qualität, die in einer gewissen Konformität mit den visuellen Leistungen einer Epoche - vor allem außerhalb der Kunst - meint. An dieser Konformität ist gesellschaftliche und politische Konformität in hohem Maße beteiligt. "Gut" in diesem Sinne ist ein Künstler, der - überspitzt gesagt - sich anpassen kann oder konkurrieren kann, was Werbung oder Massenkultur an Attraktiva für viele produzieren. Natürlich ist der Zusammenhang, in dem diese Bilder und Visualitäten enstehen der Kritik und der Verwerfung würdig, aber - das peilt Carpenters "Entdeckung" an - nur für diejenige oder denjenigen, der oder die diese visuelle Attraktivität, diese Qualität so fasziniert studiert hat wie die Massen selbst, wer sozusagen das passive Wissen der Massen als aktives reproduzieren kann - um auf der Höhe der Industrie und in der Feier der von ihr ermöglichten Niveaus dialektischerweise geleichzeitig mit ihrer Kritik beginnen zu können.

Offen bleibt dabei, ob für Carpenter Schnabel und Pollock oder einer von beiden analog zur visuellen Massenkultur zu verstehen und behandeln ist oder vielmehr ein Vorbild im direkten Sinne für ihn wäre, also jemand der angepaßt an die allgemeinen visuellen Standard, aus einem visuellen Konformismus heraus, neue Malerei entwickeln konnte. Beide Künstler, der eine über seine Praxis, der andere über seine diversen Klischees stellen sozusagen Gegenpole des Kritischen dar - Gegenpole, an denen, folgt man Carpenter, der Bildkünstler, wenn er noch ein sinnvolles Konzept sein soll, sich ebenso und simultan aufhalten muß wie auf der Höhe des kritischen Diskurses seiner Zeit - was Schnabel eher nicht tut. Wenn das nicht mehr aus der Imitation des Lebens sondern aus der Imitation der Differenziertheit industrieller Maxima entstandene Wissen des Bildkünstlers nicht mehr anschließbar ist an das kritische Projekt, haben beide verloren. Wer in der aktuellen Welt lebt, darf eben, um den Preis der kritischen Verblödung, nicht aufhören, von ihrer Gestalt fasziniert zu sein, wenn er den spezifischen Begriff ihres Falschseins, der ihr angemessenen Kritik formulieren will. Vielleicht ist dieses, diese Seite des künstlerischen Projekts dasjenige, was sich nicht ohne Subjekte, wie sie zur Zeit empirisch herumlaufen, organisieren läßt - und trotzdem nicht dazu verdammt ist, permanent nur tautologisch deren Bauplan zu perpetuieren.

 © Diedrich Diederichsen 2000     info
   this text was first published in the catalogue As a Painter... in English and German    As a Painter I Call Myself the Estate of
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